
Ospedale Psichiatrico Volterra (2008)
Mitten in der sanften Hügellandschaft der Toskana, dort, wo Zypressen in den Himmel ragen und Olivenbäume friedlich schweigen, liegt ein Ort, an dem alles Schöne endet. Volterra – eine ehemalige psychiatrische Anstalt, deren Geschichte sich wie ein dunkler Schatten über das Sonnenlicht der Umgebung legt.
Was sich hier abspielte, war jenseits aller Vorstellungskraft. In den Mauern dieses gewaltigen Komplexes waren zeitweise bis zu 6.000 Menschen untergebracht – eingepfercht, vergessen, gebrochen.
Zwei Bäder. Zwanzig Waschbecken. Zweihundert Patienten. Was nach einem Rechenfehler klingt, war tägliche Realität. Und diese hygienischen Zustände waren nur der Anfang.
Das Leben in Volterra war kein Leben. Es war ein stilles Sterben, ein Verlöschen ohne Zeugen. Der Spruch, der sich um die Anstalt rankt, ist keine Übertreibung: „Wer nach Volterra geht, kommt nie wieder.“
Die Zahlen sind erschütternd:
• 10 % der Insassen starben an den Folgen der Elektroschocktherapie.
• 40 % an den katastrophalen hygienischen Bedingungen.
• Und die übrigen 50 %? Sie starben an Kummer.
An gebrochenem Geist. An Isolation. An Hoffnungslosigkeit. Volterra war kein Einzelfall. Es war ein System.
Ein System, das Menschen nicht heilte, sondern ausgrenzte. Verwahrte. Verlor.
Erst durch die mutigen Reformen von Franco Basaglia wurde dieses System ins Wanken gebracht. 1978 begann in Italien eine stille Revolution: Psychiatrien wurden geschlossen, Patientinnen und Patienten in die Freiheit entlassen – rund 70.000 Menschen, die teils jahrzehntelang hinter Gittern gelebt hatten. Nicht zur Behandlung, sondern zur Kontrolle.
Basaglia kritisierte die „Ausgrenzungs- und Verwahrpsychiatrie“, in der Menschen nicht therapiert, sondern eingesperrt wurden. Nicht als Kranke behandelt, sondern als Unbequeme aussortiert.
Und mittendrin in diesem System: ein Mann, der heute posthum berühmt ist.
Fernando Oreste Nannetti, genannt NANOF, NOF oder NOF4.
Er schrieb Briefe an eine Verwandtschaft, die es nicht gab, er sprach von atomaren Einbrüchen, von Raumschiffen, von Astraltruppen. Und was für andere Wahnsinn war, wurde bei ihm zur Kunst.
Mit einer Gürtelschnalle ritzte er seine Gedanken in den Putz des Innenhofs. Auf 180 Metern Länge entstand ein Werk, das man nur als Lebensbuch in Stein bezeichnen kann.
Gedankenfragmente, Welten, Visionen. Fantasie gegen das Vergessen.
Ein Monument des Geistes an einem Ort, der den Geist zerstören sollte.
Als ich vor dieser Wand stehe, durchdringt mich ein eisiger Hauch.
Nicht vom Wind. Sondern von der Geschichte.
Feuchtigkeit und Frost nagen am Putz, das Werk von NANOF droht zu zerfallen. Was bleibt, sind Fotografien – Momentaufnahmen einer Seele im Exil.
Nannettis Lebensweg ist tragisch:
1948 wird er wegen Beamtenbeleidigung verhaftet.
1958 – zehn Jahre später – wird er in die geschlossene Abteilung von Volterra eingeliefert. Dort bleibt er, bis zu seiner Verlegung nach Bianchi im Jahr 1973.
Er stirbt 1994 – in Freiheit, ja, aber nach einem Leben hinter Mauern, die nicht nur aus Stein bestanden.
Volterra ist ein Ort, der Spuren hinterlässt.
Nicht auf der Haut. Sondern unter der Haut.
Ein Ort, an dem man innehält, nicht nur als Fotograf oder Explorer – sondern als Mensch.
Update 2010: Wie mir Michael und Sigrid berichten, ist Volterra zwar noch zu betreten, jedoch komplett leergeräumt. Auch Spuren von Vandalismus gehen nicht an diesem Objekt vorbei.
Links zum Thema:
Reform der Psychiatrien in Italien
Pflege-WIKI zum Thema Volterra und NANOF
Manicomio di Volterra
Zur selben Zeit am gleichen Ort: Der Spurensammler
"The town of light": Ein Horror-Computerspiel in Volterra



























































